„Herr Herzig, was bedeutet lovely sisters für Sie?“

  /  19.07.2021

Jens Herzig, Geschäftsführer des neuen Labels lovely sisters, spricht im Interview über die Markengründung, die Zielgruppe und den Abschied vom Saisondenken…

Jens Herzig

Jens Herzig, Geschäftsführender Gesellschafter der HABitu GmbH & Co. KG mit dem Label lovely sisters, erklärt im Interview die Idee hinter der Marke, die Besonderheiten des Labels und der Zielgruppe und warum „eigener Retail“ in seinem Sprachgebrauch nicht vorkommt.

Wie kam es zur Idee und Gründung von lovely sisters?

„Wir wollen uns von einigen üblichen Marktmechanismen der Flächenbewirtschaftung, der Zielgruppenansprache, des Zielgruppenbekenntnis, der Saisondefinition und des Kollektionsrhythmus verabschieden. Das neue Projekt ist aus persönlichen Learnings entstanden. In großen Unternehmen kann man manches nicht schnell genug verändern. Dank meiner mehrjährigen Erfahrung in verschiedenen leitenden Management-Positionen in der Modebranche, u.a. bei Gerry Weber und Comma, bin ich Experte für strategische Vertriebssteuerung und Führung von Vertriebsorganisationen in diesem Bereich.“

Was steckt hinter dem Namen?

„Ich habe bereits seit Jahrzehnten auf all meinen Stationen viel Spaß an dieser Zielgruppe. Die Community dieser Frauen ist für mich emanzipiert, selbstbewusst und cool, weil sie es schon immer waren, ohne groß darüber zu sprechen. Es sind für mich lovely sisters! Wir verstehen uns als Teil dieser Community. Wir stärken Frauen in ihrer natürlichen Selbstverständlichkeit. Und wir fokussieren uns auf Frauen im letzten Drittel ihres Berufslebens. lovely sisters verbindet alte Stärken wie Passform, Qualität und Preis/Leistung ‚gesetzter‘ Marken mit dem Modegrad vermeintlich ‚jüngerer‘ Anbieter. Wir entwickeln inspirierende, casual orientierte Coordinates-Kollektionen für selbstbewusste Frauen. Qualität, ein hoher Modegrad und Passformsicherheit von Größe 36 bis Größe 48 gehören zu unserer DNA. Wir sind keine Newcomer, sondern Branchenexperten mit starker Expertise, wenn es um die DOB geht. Wir verbinden die Innovationskraft eines Startups mit der Neutralität eines unverbrauchten Namens. Und wir bekennen uns zum Facheinzelhandel, ducken uns nicht weg und übernehmen durch eine ausgefeilte Bewirtschaftung unserer Flächen permanent Verantwortung in der Saison, gerade wenn es um die Rentabilität unserer Marke am Point of Sale geht.“

In welchem Bereich bewegen sich die Preislagen?

„Wir gehören dem gehobenen Mainstream-Bereich an und befinden uns in einem Verdrängungswettbewerb. Das heißt am Beispiel Hosen, dass die Durchschnittspreislage bei 99 Euro liegt. Nach unten bieten wir auch Hosen für 89 oder 79 Euro an, aber nach oben werden wir die Eckpreislage von 129 Euro nicht überschreiten.“

lovely sisters soll weniger Vororder, NOS oder Basis-Qualitäten beinhalten, aber dafür mehr Mode und Nachorder. Was heißt das im Detail?

„Wir glauben, dass hohe NOS-Quoten und wenige Basisqualitäten, die sich das ganze Jahr über wiederholen, auf Dauer sehr langweilig sind und für wenig Varianz auf den Flächen sorgen. Unsere Kundin ist allerdings nicht langweilig und sie liebt Varianz! Sie möchte sich gerne schmücken – mit Farbe, mit modischen Schnitten und spannenden Details. Wir sprechen über eine Cross-Dresserin, die genau weiß, was sie will, aber nicht sklavisch nur mit einer Marke verheiratet ist. Unsere Zielkundin ist nicht unbedingt auf der Suche nach ‚Non Colour‘-Kollektionen, die ihr beispielsweise mit den Farben Sand, Beige oder Weiß die letzte Farbe aus dem Gesicht ziehen und mit denen sie ungeschminkt älter aussieht. In einer Art gelebtem Jugendwahn und auf der Suche nach dem letzten Schrei verrennen sich viele Labels und missachten die Bedürfnisse dieser Kundin, da sich alle immer nur auf die Tochter stürzen. Diese wiederum kann im Rahmen ihrer Jugend dieselben Farben, Schnitte und allgemein auch cleane Looks besser tragen als die Mutter. Das heißt für lovely sisters – wir setzen auf Mode, aber wir übersetzen sie für unsere Community.

NOS ist ein Begriff aus den 1980er/90er Jahren und geprägt durch eine Zeit, in der die Produktion in Richtung Ausland, vor allem Asien, verschoben wurde und sich die Industrie aufgrund der verlängerten Lead Times etwas einfallen lassen musste, um Renner-Artikel kurzfristig verfügbar zu machen. Man hat sich dann Rohware geblockt oder Renner-Artikel des Vorjahres ans Lager gelegt und selbige ‚NOS‘ getauft. Das hat auch 15 Jahre gut funktioniert, nur hat sich der Zeitgeist der Endverbraucherin verändert. Sie hat sich weiterentwickelt. Große Teile der Modebranche auf Herstellerseite offensichtlich nicht.

Unsere Kollektion ist pro Liefertermin klein. Die Optionsanzahl pro Thema ist gering. Wir bieten keine acht Blazer an, damit letztlich nur zwei verkauft werden. Wir bieten noch nicht einmal zwölf Liefertermine zusätzlich zu NOS an, die die Flächen unserer Partner verstopfen könnten, sondern lassen den Kunden in den üblichen ‚Rotpreis‘-Monaten Zeit zum Durchatmen. Da unsere Themen so klein gehalten sind und wir durch unseren Lieferrhythmus verkürzte Lead Times generieren, schaffen wir es mit rund 70% unserer Kollektion pro Liefertermin den jeweiligen Lebenszyklus des betroffenen Liefertermins nachlieferbar zu machen.“

Im Bereich Nachhaltigkeit haben Sie hohe Ziele und Standards, die Sie kommunizieren und an denen Sie sich gerne messen lassen wollen. Welche sind das?

„Vorab: lovely sisters ist kein grünes Label. Wir betreiben weder ‚Green Washing‘, noch versuchen wir Preiserhöhungen mit Öko-Zertifikaten zu begründen. Das was wir tun, ist eine Selbstverständlichkeit, die wir nicht für Werbezwecke nutzen, um Umsatz zu pushen. Wir haben Ziele und Standards, die wir auf unsere Website ab Ende Oktober kommunizieren werden und an denen wir uns dann gerne messen lassen. Dort steht dann ganz offen, was wir noch nicht können, was wir uns vornehmen und wie weit wir aktuell sind. Auch wenn wir zum Start heute noch nicht alles können, so sind diese Ziele Triebfedern für alle weiteren Schritte. Diese Art der Offenheit und der Kommunikation sind unsere Form von Authentizität im Umgang mit diesem wichtigen Thema.“ 

Im Oktober soll die erste Kollektion ausgeliefert werden. Wie viele und welche Styles umfasst diese? Und wie viele Kollektionen soll es künftig jährlich geben?


„Für die Liefertermine Oktober bis Dezember werden wir pro Liefertermin nicht mehr als 22 Optionen anbieten. Wir haben acht Liefertermine. Bei uns fängt der Sommer nicht im November an und auch der Juli stellt keinen ‚Winteranfang‘ dar. Wir denken und agieren nicht in Saisons, sondern in Reichweiten pro Liefertermin. Jeder Liefertermin hat sozusagen pro Produktgruppe seine eigene Saison, in der wie ihn individuell bewirtschaften. Wichtig ist uns einzig, dass jeder Liefertermin am Ende seiner eigenen, individuellen Abverkaufszeit maximal abgeflossen ist und der höchst mögliche Netto-Rohertrag pro Quadratmeter erwirtschaftet wurde.“

30 bis 50 Händlerinnen und Händler wollen die erste Kollektion testen. Welche sind das beispielsweise? An welche Einzelhandelszielgruppe richtet sich die Marke?

„Wir richten uns an den klassischen Facheinzelhandel mit all seinen Platzhirschen. ‚Eigener Retail‘ kommt in unserem Sprachgebrauch nicht vor und wenn ich das in unserem ersten Jahr sage, wird sich daran auch zukünftig nichts ändern. Sehen Sie es uns bitte nach, wenn wir in den kommenden Jahren die ersten 100 bis 200 Partner schützen und vorerst nicht namentlich erwähnen. Letztlich auch um das Brennglas derjenigen, die hinterher sagen, oft schon vorab alles besser gewusst zu haben, zu minimieren. Wir werden am Anfang sicher nicht alles richtig machen und mit unseren Handelspartnern gemeinsam lernen müssen. Dafür tragen wir umgekehrt Sorge, dass insbesondere die Partner der ersten Stunde durch ihr Vertrauen keinen Schaden in der erzielten Kalkulation erleiden. Wir würden an dieser Stelle auch viel lieber von ‚Freunden‘ und nicht von Kunden sprechen.“  

Eigene Stores sind nicht geplant und im Onlinebereich „ein überschaubares und vor allem gesteuertes Marktplatz-Geschäft“. Warum keine eigenen Stores und was bedeuten die Onlinepläne konkret?

„Unsere Kundin ist eine Cross-Dresserin, die die Auswahl verschiedener Marken im Facheinzelhandel zu schätzen weiß. In einem Monostore findet sie dieses Angebot nicht. Dass sich eine Kundin von oben bis unten mit derselben Marke einkleidet, ist ein Wunschtraum der Industrie und war im Mainstream-Bereich der größte Management-Fehler der vergangenen 20 Jahre! Diese Kundin gibt es maximal im Premium- oder Luxus-Segment. Eigener Retail wurde oft als Wachstumsmotor missbraucht, um Umsatz-Rallys zu gewinnen oder Anleger kurzfristig zu befriedigen. Das Streben nach Umsatz und Marktanteilen nahm in der Vergangenheit zum Teil irrationale Züge an. Nicht umsonst wurden viele dieser unrentablen Träumereien in der nahen zurückliegenden Vergangenheit von vielen Marktteilnehmern schmerzlich beendet oder auf ein halbwegs gesundes Maß zurückgefahren. Bei lovely sisters wollen wir dagegen weder die Größten noch die Stärksten werden. Wir möchten vor allem mit unseren Partnern gesund wachsen und offen bleiben für jede gut gemeinte Anregung zur Weiterentwicklung dessen, was wir lieben – lovely sisters.

Für den Online-Bereich zählt dieselbe Prämisse. Wir müssen keine Rekorde knacken und wollen gesund bleiben. Das heißt, wir machen das, was Sinn macht. Sinnlos ist es aus unserer Sicht, sich jedem Marktplatz und jeder Partnerschaft an den Hals zu werfen, um in möglichst kurzer Zeit viel zu erreichen und um hinterher festzustellen, dass Vieles von dem, was man angekurbelt hat, unrentabel ist. Wir haben unseren eigenen Webshop und werden mit ausgesuchten Partnern ein überschaubares und gesteuertes Marktplatzgeschäft betreiben.“

Sind Präsenzen auf Fachmessen geplant?

„Wir haben gerade an der Digital Fashion Cloud teilgenommen und werden in Düsseldorf in einer privaten Location ausgesuchten Kunden mit Terminvergabe unsere Kollektion gerne vom 22. bis zum 28. Juli zeigen.“

Was hebt lovely sisters von anderen Marken ab?

„lovely sisters ist eine progressive, digital affine, dezentral organisierte und vertikal agierende Womenswear-Modemarke für Frauen im letzten Drittel ihres Berufslebens. Besonders ist vor allem, wie wir unsere Zielgruppe sehen: Die lovely sisters sind für uns Frauen, die in den 80er und 90er Jahren Mitbegründerinnen der heutigen Emanzipationsbewegung waren, gegen Atomkraft und für mehr Umweltbewusstsein kämpften und zu Depeche Mode, AHA oder U2 tanzten. In Wort und Bild werden wir Geschichten dieser Generation erzählen und zum Schmunzeln anregen, um zu dokumentieren, wie cool diese Frauen früher bereits waren und heute noch sind. Wir lieben diese Zielgruppe, die aus unserer Sicht vom Markt generell nicht genügend wertgeschätzt wird, weil man ihr oft nur suggeriert, dass ausschließlich ihre Tochter wichtig wäre.“

Haben Sie Bedenken, während der noch nicht endgültig überstandenen Corona-Pandemie ein Label zu launchen? Bzw. hat die Pandemie bislang für Schwierigkeiten/Hindernisse gesorgt?


„Es gibt spaßigere Dinge, als mitten in einer Pandemie Menschen davon zu überzeugen, in ein Start-up zu investieren, das mit Mode zu tun hat. Die anpackende, typisch deutsche Mentalität scheint offensichtlich nicht mehr so weit verbreitet zu sein, wie man es von außen bzw. historisch betrachtet noch einschätzen könnte.  Man braucht Ausdauer, Mut, ein klares Konzept und darf sich nicht beirren lassen. Sämtliche staatliche Institutionen haben im Verlauf dieses Prozesses bewiesen, warum sich unser Land in der Krise so behäbig und langsam bewegt. Entscheidungen werden unendlich verzögert und man tut sich im Rahmen eines analogen und zentral organisierten Beamten-Apparates sehr schwer damit, dezentral und digital organisierte Geschäftsmodelle zu verstehen. Zwischen Lippenbekenntnissen, also politischem ‚Reden‘ und praktischem ‚Agieren‘ tun sich an dieser Stelle oft Welten auf.“

Was wollen Sie langfristig mit der Marke erreichen?


„Wir sehen uns in fünf Jahren als der Partner, der in den Augen des Fachhandels als erstes erkannt hat, wie wertvoll die beschriebene Zielgruppe für den Einzelhandel ist. Man wird uns schätzen, weil wir nicht nur über Partnerschaft reden, sondern selbige praktizieren, Trends schnell umzusetzen wissen und flexibel agieren. Und weil man mit unserem Produkt und der damit einhergehenden Flächenbewirtschaftung die höchsten Nettoroherträge pro Quadratmeter erwirtschaftet. Die Community der Frauen, für die wir da sein wollen, wird uns lieben, weil wir uns zu ihnen bekennen, ihre Figuren umschmeicheln und weil spannende Frauen dann nicht nur von innen heraus strahlen, sondern ihrer Power auch mit Hilfe unserer Produkte nach außen Ausdruck verleihen können.“

Vielen Dank für das Interview!

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