„Weniger Widerstand, mehr Neugier und Empathie“

  /  26.09.2022

Am 6. Oktober kommt der Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ in die deutschen Kinos! Regisseurin Aelrun Goette spricht im Interview über Dunkelheit & das Helle, Schubladendenken und die größte Veränderungsphase. Und ihr könnt Gästelistenplätze und Kinotickets gewinnen!

Aelrun Goette

Aelrun Goette früher, fotografiert von Ute Mahler

Filmszenenbilder

Der Kinofilm „In einem Land, das es nicht mehr gibt“, der am 6. Oktober 2022 bundesweit in die Kinos kommt, entführt das Publikum in eine faszinierende, für viele völlig unbekannte Welt: die Modeszene der DDR. Von der Zeitschrift Sibylle, über die Luxusmarke Exquisit, bis hin zur Subkultur, wo kreative Freigeister Kollektionen aus Duschvorhängen entwarfen und mit fantasievollen Modenschauen ihren ganz eigenen Widerstand ausdrückten. Der Film erzählt von einer jungen Frau, die auf der Suche nach sich selbst ein Gefühl von Freiheit findet. Der Film handelt von stillen Sehnsüchten und ausgelebten Träumen, Rollenbildern und dem Umgang mit Homosexualität in der DDR. Von Ausgrenzung und Konformismus und dem Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung. Regisseurin Aelrun Goette über einen anderen Blick auf die DDR, Abgründe und die Definition von Schönheit…

Ihr neuer Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ befasst sich mit der Modeszene der DDR und beruht auf wahren Begebenheiten; Sie selbst wurden auf der Straße in Ostberlin als „Mannequin“ entdeckt und waren u.a. auf dem Cover der Sibylle. Wie war es für Sie, wieder in das Leben von „früher“ einzutauchen?


„Eine sehr spannende Reise, weil ich erstmal die Schablonen wegräumen musste, durch die wir heute auf die DDR schauen. In den mehr als 30 Jahren haben wir uns damit eingerichtet, den Osten Totalitarismus-theoretisch zu lesen: Wir sehen Täter, Opfer oder Zeitzeugen, aber zu wenig die Menschen in ihrer Vielfalt. ‚Einheitsgrau‘ ist ein typisches Wort, um die DDR zu beschreiben. Dabei war sie Ende der 80er Jahre auch bunt, voller selbstgenähtem, gehäkeltem und mit viel Improvisation.“

Sie haben bislang vor allem auch Themen wie Mord [„Ohne Bewährung – Psychogramm einer Mörderin“, „Die Kinder sind tot“] oder Sterbehilfe [Tatort-Folge „Der glückliche Tod“] behandelt. Welchen Einfluss auf Ihr Leben abseits des Sets hat es, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen – auch im Vergleich zu positiven Erzählungen wie der Ihres aktuellen Films?

„Ich glaube, es ist eher andersherum: Ich kenne die Welt aus der Ecke des Zimmers und deshalb kann ich dunkle Charaktere mit Leichtigkeit lebendig werden lassen. Gleichzeitig bin ich ein lustvoller Mensch, denke grundsätzlich erst mal positiv und habe bis heute zuweilen dieses Gefühl in mir, die Welt umarmen zu wollen. Vielleicht hat sich in jüngeren Jahren eher die Dunkelheit aus meiner Vergangenheit durchgesetzt und jetzt kommt das Helle dran.“

Sie haben in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gesagt, wenn man Erfolg hat, werde man schnell thematisch eingeordnet. Sie würden aber gerne auch mal etwas anderes erzählen also haben Sie selbst etwas geschrieben. Glauben Sie, dass Sie durch „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ künftig neu „einsortiert“ werden?

„Na hoffentlich! Oder noch besser: ich werde gar nicht einsortiert! Es sei denn, es gibt so eine Kategorie wie: spannend – noch nicht erzählt – cineastisch – braucht die Welt!“

Der Film zeigt auch die Schönheit im Osten, die kreativen Nischen und Freiheitsgefühle. Damit hebt er sich ab von vielen gängigen DDR-Darstellungen. Warum ist es Ihnen wichtig, diese Seite der DDR zu zeigen?

„Es gibt diesen schönen Gedanken von Kierkegaard: ‚Man muss das Leben vorwärts leben aber man kann es nur rückwärts verstehen.‘ Damit wir unsere Leben besser verstehen, müssen wir uns besser kennenlernen. Viele Menschen aus der DDR sind es leid, dass ihre Vergangenheit ausschließlich über Staatsterror definiert wird und dass die Kompetenzen, die sie in der DDR erworben haben, nicht geschätzt werden. Gleichzeitig gibt es eine große Neugier im Westen, auch die Seiten hinter der Schablone des Ostens kennenzulernen. Wir kommen mit unserem Film genau in die richtige Zeit.“

Der Film erzählt von Träumen, Freiheit, Rebellion, Unterdrückung und Solidarität – und stellt die Frage „Was ist es dir wert, deinen Traum zu leben? “ Können Sie diese Frage beantworten?

„Geschichten zu erzählen und Regie zu führen ist mein Traumberuf. Ich empfinde es wie eine Art Zauberei: Ich sitze zum Beispiel so in meinem roten Bademantel am Schreibtisch und denke mir etwas aus. Und nach einer Zeit, die manchmal sehr lange dauern kann, werden diese Gedanken endlich real und ich kann mit besonderen Menschen in großer Ernsthaftigkeit an dem gemeinsamen Ziel arbeiten, diese Gedanken in einen Film zu gießen. Und dann schaut sich das Publikum das Ergebnis an; ist berührt; lacht, weint und geht vielleicht sogar mit einer interessanten Frage oder einer neuen Erkenntnis nach Hause. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als diese zutiefst ernsthafte Zauberin zu sein. Aber diese Arbeit fordert einen hohen Preis: Ich habe für diesen Film 14 Jahre gekämpft, die ersten 10 Jahre ohne durchschlagenden Erfolg. Die letzten vier Jahre habe ich ausschließlich an diesem Projekt gearbeitet, weil nach zwei Jahren Vorbereitung Corona dazwischenkam. Wir mussten kurz vor Drehbeginn den Film stoppen und plötzlich schien die ganze Arbeit umsonst. Ich bin komplett in den Abgrund gestürzt, musste mich wieder rausarbeiten und wieder neu anfangen. Das war extrem hart.“

Welche Herausforderungen und Ansprüche gab es bei der Auswahl der Schauspielerinnen und Schauspieler?

„Die Kunst besteht darin, nicht nur die passenden Darsteller und Darstellerinnen zu finden, sondern ein Ensemble zu entwerfen, das eine Welt verkörpern kann. Man muss sich das wie ein flüssiges Mosaik vorstellen: Ändert sich eine Person oder eine Figur, verändert sich das gesamte Bild. Zusammen mit Anja Dihrberg, meiner Castingdirektorin, habe ich mit großer Sorgfalt an diesem Bild gearbeitet und ich bin über jeden einzelnen Schauspieler und jede einzelne Schauspielerin glücklich.“

Was hat sich Ihrer Meinung im Laufe der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte in der Mode(l)-Welt verändert?


„Es fällt mir schwer, die Welt der Mode im Osten mit dem Wirtschaftsfaktor, den die Mode heute darstellt, zu vergleichen. Natürlich spielte der Verkauf beim VHB Exquisit – dem Luxuslabel in der DDR – auch eine Rolle: So hatte es der Betrieb sogar geschafft, einen Verkaufsstand in der Galerie Lafayette in Paris zu bekommen. Aber das steht zu den heutigen Dimensionen in keinem Verhältnis. Ich habe meine Zeit in der Mode damals als spielerisch erlebt und viele, interessante Menschen kennengelernt. Das habe ich in besonderer Erinnerung.“

Im Film erklärt Sibylle-Chefredakteurin Elsa Wilbrodt, gespielt von Claudia Michelsen, ihre Definition von Schönheit. Was ist Schönheit in Ihren Augen?

„Die wunderbare Claudia Michelsen spricht als Elsa in meinen Worten: ‚Schönheit ist ein Versprechen, dass es jenseits der Mittelmäßigkeit etwas gibt, wo Ruhe herrscht. Schönheit besänftigt die Nerven, Schönheit ist keine gute Absicht, sondern eine Tatsache. Schönheit ist Verantwortung, Provokation, Strenge... Und Schönheit hat ihren Preis.‘“

„Manchmal liegt der Charme in der Improvisation“ ist ein Zitat aus dem Film. Würden Sie dies als Regisseurin unterschreiben?


„Improvisation beinhaltet das Element des Spontanen, Freiheitlichen, Ungeplanten. Diese Elemente entfalten sich zu etwas Besonderem, wenn die Basis eine gute Vorbereitung ist. Karl Valentin hat gesagt: ‚Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit‘.“

Eine weitere Aussage des Films lautet, anderen niemals das Recht zu geben, darüber zu entscheiden, wer man ist. Haben Sie die Erfahrung gemacht, dass andere Ihnen diese Entscheidung abnehmen wollten?

„Ich kenne das gut, dass andere meinten, aufgrund meines Geschlechts oder meiner Herkunft besser zu wissen, wer ich bin, was ich will und was ich kann. Und dieses ‚In-Schubladen-stecken‘ gibt es bis heute. Ich befürchte sogar, dass die Schubladen immer mehr werden und immer fester zugedrückt werden. Anstatt dass wir mit Offenheit aufeinander zugehen, beurteilen wir uns schon, bevor wir uns ‚Guten Tag‘ gesagt haben. Wir müssen unbedingt damit aufhören.“

Wie sind Sie damit umgegangen bzw. tun es heute?

„Ich habe mal über mein Aufwachsen in der DDR gesagt, dass ich damals den Widerstand erlernt habe, den ich heute zum Überleben brauche. Wenn mich jemand in eine Schublade steckt, den ich interessant finde, dann arbeite ich mich da heraus. Wenn ich die Person uninteressant finde, ist es mir inzwischen nicht mehr so wichtig, was sie von mir denkt.“

Es geht im Film auch um Konkurrenz, darum, anderen, in diesem Fall Models, Steine in den Weg zu legen – ist Ihnen das auch passiert?


„Ja na klar. Aber ich bin auf dieser Ebene nicht so richtig ansprechbar. Wobei ich gegen einen fairen Wettbewerb überhaupt nichts habe. Nur leider lernt in unserer neoliberalen Zeit kaum jemand, wie solidarisches Miteinander geht und deshalb fehlt die Erfahrung, dass ein solches Miteinander gut für alle Beteiligten ist. Ich beobachte, dass sich die Menschen immer mehr in kleine Gruppen zurückziehen, in denen sie versuchen, fair und loyal zu sein. Und es zuweilen auch sind. Aber im größeren Miteinander fahren sie ihre Ellenbogen aus.“

Was glauben Sie, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn Sie damals nicht als Model gearbeitet hätten?

„Ich komme eher aus einer denkenden Welt, habe schon als junges Mädchen viel gelesen und wollte immer unbedingt sehr schlau werden. Deshalb dachte ich auch erst, die müssen sich da bei der Sibylle und Exquisit irren, wenn sie glauben, ich tauge als Mannequin. Doch durch die Zeit in der Mode habe ich an Selbstbewusstsein gewonnen und würde heute sagen, dass der Zuspruch mir geholfen hat, in ein positives Frau-sein hineinzuwachsen.“

„Mode ist Veränderung und Veränderung stößt auf Widerstand“ – ist das auch heute noch so? Und falls ja, haben Sie ein konkretes Beispiel?

„Ich glaube, in unserer globalisierten Welt hat Mode diese spezifische Kraft nicht mehr. Man kann als Punk oder fast nackt rumlaufen, das reißt heute niemanden mehr vom Hocker. Aber was unser Leben angeht, befinden wir uns gerade in der größten Veränderungsphase, die wir je erlebt haben. Niemand hat eine Ahnung, wohin sich unsere Welt in den nächsten Jahren entwickelt. Ich bin dafür, dass wir auf diese Veränderung mit weniger Widerstand und mehr Neugier und Empathie reagieren.“

Vielen Dank für das Interview!

Ihr seid neugierig auf den Film? Wir verlosen 3x 2 Kinofreikarten und 2 Gästelistenplätze für das Kino-Film-Event in Berlin inkl. anschließendem Filmgespräch mit Regisseurin & Drehbuchautorin Aelrun Goette, DDR-Modeikone & Berliner Kultfriseur Frank Schäfer sowie Fotografin Ute Mahler. Die Moderation übernimmt Linda Brack, Gründerin #Frauenmacht. Am Donnerstag, den 6. Oktober 2022 um 20 Uhr geht’s los, im Kino International auf der Karl-Marx-Allee 33.

Was ihr tun müsst, um zu gewinnen? Schickt uns bis zum 30. September 2022, 16 Uhr, eine Mail mit dem Betreff „In einem Land“ an gewinn@first-blue.de, verratet uns, warum ihr den Film gerne sehen möchtet und ob ihr 2 Kinotickets oder die beiden Gästelistenplätze für das Berlin-Event (ohne Anreise, ohne Übernachtung) gewinnen möchtet. Liked oder teilt gerne optional unseren Instagram- oder Facebook-Post zum Film. Die Gewinner*innen werden per E-Mail benachrichtigt.  

Filminhalt: Ostberlin, 1989 – kurz vor dem Abitur fliegt Suzie (Marlene Burow) von der Schule und muss sich im Kabelwerk Oberspree als Arbeiterin bewähren. Ein zufälliges Foto in der Straßenbahn öffnet ihr die Tür in die glamouröse Welt der Mode von VHB Exquisit. Sie landet auf dem Cover der Sibylle und Chefredakteurin Elsa Wilbrodt (Claudia Michelsen) eröffnet ihr so eine Chance, dem sozialistischen Fabrikalltag vielleicht doch noch zu entkommen. Suzie taucht ein in die schillernde Subkultur des Ostberliner Undergrounds, wo der schwule Rudi (Sabin Tambrea) und seine Freunde mit leidenschaftlicher Fantasie ihre eigene Mode aus Duschvorhängen und sonstigem verfügbaren Material erfinden. Sie verliebt sich in den rebellischen Fotografen Coyote (David Schütter) und Suzie erlebt die Freiheit, von der sie immer geträumt hat. Doch das hat ihren Preis: Was ist es Suzie wert, ihren Traum zu leben? Hier geht’s zum Trailer!

Beraten wurde Aelrun Goette für den Film u.a. von Modedesignerin und Modeprofessorin Grit Seymour (Teile ihrer Biografie finden sich im Film wieder) und Fotografin Ute Mahler, die früher auch für die „Sybille“ fotografierte. Frank Schäfer begleitete den Dreh und beriet vor allem auch für die Figur Rudi.

Kristina Arens